Sigune Schnabel, Autorin

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Lyrik

Unberechenbar

Manchmal war ich dreihändig aufgewacht.
Dann klatschte Mutter
vor Glück und ließ mich das Frühstück richten.
Sie sagte, der Tag steht
in Großmutters Garten.

Ich legte mich hölzern
in den Familienstamm,
setzte Moos an über fünfzehn Fingern,
atmete Stille und erstarrte
in den Rillen meiner Jahresringe.

Mit den Händen spürte ich die Frühlingssäfte.
Ich bündelte die Kräfte, quer durch die Erwartungen
ließ ich das Leben schlagen.

Erschienen in der Anthologie zu den Berner Bücherwochen 2021


Wir trinken Regenwasser im Wald.
Vor lauter Bäumen sehen wir
uns nicht mehr,
flackern zwischen Lebensentwürfen.
Mit den Augen tasten wir
Fanggebiete ab, in denen Lieder
auf Grund laufen.
Kinder spielen mit Ankern und wühlen
im Sand, wickeln Zukunft um die Finger.

Wir kauen am Licht,
bis es bricht oder zäh wird,
begehen Mundraub an unseren Fragen,
jagen Spürhunden nach,
schulterfrei und neben der Spur.

Sobald die Stimme wegbleibt,
nehme ich mir einen Falken.

Erschienen in der Anthologie "Ohne Filter", Bonn 2021

Im Abendkleid

Hinter den Feldern hat das Meer
die Farbe von November,
wenn er bricht
und sich öffnet: im Schatten der Platanen
mit Hingabe an die Nacht.

Unsere Einsamkeit: ein Apfelkern,
an dem wir kauen, bis er
zerdrückt in unseren Mündern kauert.

Eine andere Geschichte sitzt
mit Feuerhaar und blauem Kleid
am Tisch mit einem jungen Mann,
zählt Münzen, geht verschütt und schüttelt
mir die Hand.

Im Regen wird mein Wort
so weich, dass ich es biegen kann.

Erschienen im Dichtungsring 56, 2019

Befreiung

Die Heimat ist ein Warteraum
mit blauen Stauden.
Außen riecht die Luft
nach Wüstentagen.

Immer wieder kommt ein Mann hervor
aus ungenutzten Stunden.
Er atmet, schaut und geht
an mir vorbei.
Frei bin ich nicht
und doch: ein Tier,
das aus der Sprache trat
und nicht mehr auf dem Wortfeld
eingezäunte Enge grast.

Erschienen in der Anthologie zum Wiener Werkstattpreis 2019